Bibel und Gott

Maßstäbe zur kirchlichen Urteilsbildung über Homosexualität

Nach der ganzen Tradition christlicher Lehre gibt es verkehrte, perverse Liebe. Die Menschen sind zur Liebe geschaffen, als Geschöpfe des Gottes, der Liebe ist, aber diese Bestimmung der Menschen wird, wo sie sich von Gott abgewendet haben, pervertiert. Das ist überall da der Fall, wo Menschen anderes mehr lieben als Gott. So sagt Jesus: „Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,37). Sogar für die Liebe zu den Eltern gilt also, dass die Liebe zu Gott den Vorrang haben muss, obwohl doch die Liebe zu den Eltern Gegenstand des vierten Gebotes ist. Der Wille Gottes – oder mit der Verkündigung Jesu zu sprechen: Die Herrschaft Gottes über unser Leben – soll bei unserer Lebensführung der Leitstern unserer Selbstbestimmung sein.

Was das für den Bereich des sexuellen Verhaltens bedeutet, ist aus dem Wort Jesu über die Ehescheidung zu entnehmen. Jesus greift in seiner Antwort auf die Frage der Pharisäer nach der Zulässigkeit der Ehescheidung auf die Schöpfung des Menschen zurück, in der er Gottes Intention mit diesem seinem Geschöpf ausgedrückt sieht: Von der Schöpfung her gilt, Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen. Darum heiße es auch, der Mann werde Vater und Mutter verlassen, um mit dem Weibe vereint zu sein, und die beiden werden ein Fleisch sein. Daraus folgert Jesu Wort, dass die Unverbrüchlichkeit der Gemeinschaft von Mann und Frau das Ziel des göttlichen Schöpfungswillens mit dem Menschen sei. Die unauflösliche eheliche Gemeinschaft ist also das Ziel der Erschaffung des Menschen als geschlechtliches Wesen (Mk 10,2-9).

Dieses Wort Jesu bildet die Grundlage und das Kriterium für alle christlichen Stellungnahmen zu den Fragen der Sexualität. Es geht ja darin nicht nur um die Ehe als Spezialthema, sondern ganz umfassend um die von der Schöpfung des Menschen her begründete Bestimmung seiner Existenz als Geschlechtswesen. Nach dem Worte Jesu ist die Geschlechtlichkeit des Menschen als Mann und Frau auf die unauflösliche Gemeinschaft der Ehe angelegt. Das ist der Maßstab für die Urteilsbildung christlicher Lehre über den ganzen Bereich des geschlechtlichen Verhaltens.

Diese Sicht der Dinge entspricht bei Jesus im Großen und Ganzen jüdischer Tradition, obwohl Jesus mit der Betonung der Unauflöslichkeit der Ehe über die Bestimmung des jüdischen Gesetzes hinausging, die eine Möglichkeit der Ehescheidung vorsah (Dtn 24, 1). Dass der Mensch in seiner Geschlechtlichkeit zur ehelichen Gemeinschaft bestimmt ist, war gemeinsame jüdische Überzeugung. Darin sind schon im Alten Testament die Urteile über von dieser Norm abweichende Formen sexuellen Verhaltens begründet, also neben Unzucht und Ehebruch auch über die Homosexualität.

Die biblischen Urteile über homosexuelles Verhalten sind eindeutig in ihrer mehr oder weniger scharfen Ablehnung, und alle biblischen Aussagen zu diesem Thema stimmen ausnahmslos darin überein. Das Heiligkeitsgesetz im dritten Buch Mose bestimmt apodiktisch- „einem männlichen Wesen darfst du nicht beiwohnen, wie man einer Frau beiwohnt; es wäre ein Gräuel“ (Lev 18,22). Das zwanzigste Kapitel des Buches rechnet solches Verhalten sogar zu den todeswürdigen Verbrechen (Lev 20,13), übrigens ebenso wie wenige Verse zuvor den Ehebruch (Lev 20, 10). Die Juden wussten sich in diesen Fragen von den sie umgebenden Völkern geschieden, und das hat auch die neutestamentlichen Aussagen zum Thema der Homosexualität bestimmt, im Gegensatz zur hellenistischen Kultur, die an homosexuellen Beziehungen keinen Anstoß nahm. Paulus hat im Römerbrief homosexuelles Verhalten zu den Folgen der Abwendung der Menschen von Gott gerechnet (Röm 1,27), und im ersten Brief an die Korinther wird homosexuelle Praxis neben Unzucht, Ehebruch, Götzendienst, Wucherei, Trunksucht, Diebstahl und Raub zu den Verhaltensweisen gerechnet, die von der Teilhabe am Reiche Gottes ausschließen 1 Kor 6,9f), und Paulus meint, die Christen seien von der Verstrickung in all solche Verhaltensweisen durch die Taufe frei geworden (1 Kor 6,11).

Diesen paulinischen Aussagen steht im Neuen Testament keine einzige Stelle gegenüber, die ein günstigeres Urteil über homosexuelle Betätigung erkennen ließe. In der Gesamtheit des biblischen Zeugnisses wird also praktizierte Homosexualität ausnahmslos zu den Verhaltensweisen gerechnet, in denen die Abwendung des Menschen von Gott besonders eklatant zum Ausdruck kommt. Dieser Befund setzt dem Urteil einer an die Autorität der Schrift gebundenen Kirche zum Thema der Homosexualität sehr enge Grenzen, zumal die biblischen Aussagen zu diesem Thema das negative Gegenstück zu den positiven Anschauungen über die schöpfungsgemäße Bestimmung des Menschen in seiner Sexualität bilden, sodass es sich also keineswegs um marginale Urteile handelt, die ohne Schaden für die christliche Botschaft im ganzen vernachlässigt werden könnten. Die biblischen Aussagen über Homosexualität lassen sich auch nicht dadurch relativieren, dass man sie als Ausdruck einer für den modernen Menschen überholten kulturgeschichtlichen Situation betrachtet. Es handelt sich hier ja gerade um ein Thema, bei dem die biblischen Zeugnisse schon ursprünglich ganz bewusst den in ihrer kulturellen Umwelt herrschenden Auffassungen entgegentraten, und zwar um des Glaubens an den Gott Israels willen hinsichtlich der von ihm dem Menschen bei seiner Schöpfung verliehenen Bestimmung.

Nun hört man heute von Befürwortern einer Änderung des Urteils der Kirche über die Homosexualität, die biblischen Aussagen hätten einen erst durch moderne anthropologische Erkenntnisse gewonnenen Befund nicht berücksichtigen können, nämlich dass Homosexualität – wie es heißt – schon als „Gegebenheit“ der leiblich-seelischen Befindlichkeit homosexueller Menschen vor aller entsprechenden sexuellen Betätigung zu würdigen sei. Man sollte hier zur deutlicheren Unterscheidung von der homosexuellen Betätigung besser von einer homophilen Veranlagung sprechen. Dazu ist zu sagen, dass eine solche Veranlagung nur durch ihre Intensität auf eine Minderheit von Menschen beschränkt ist. Als ein Faktor menschlicher Sexualität unter anderen ist sie viel weiter verbreitet. Für den Menschen ist ja charakteristisch, dass sexuelle Antriebe nicht auf einen abgesonderten Verhaltensbereich beschränkt sind, sondern das ganze menschliche Verhalten in allen Lebensbereichen durchdringen. Dazu gehören auch Beziehungen zu Personen des eigenen Geschlechts. Doch gerade weil erotische Motive beim menschlichen Verhalten überall beteiligt sind, stellt sich dem Menschen die Aufgabe ihrer Integration in das Ganze der menschlichen Lebensführung. Die Tatsache homophiler Neigungen muss nicht automatisch zur homosexuellen Betätigung führen. Sie kann in eine Lebensführung integriert werden, in der sie der Beziehung zum andern Geschlecht untergeordnet wird und in der das Thema sexueller Betätigung überhaupt nicht das alles andere beherrschende Zentrum menschlicher Lebensführung sein sollte. Die Leistung der Ehe als Institution liegt, wie der Soziologe Helmut Schelsky mit Recht gesagt hat, nicht zuletzt darin, dass sie die menschliche Sexualität einbindet in darüber hinausgehende Aufgaben und Ziele.

Die Tatsache homophiler Neigungen also braucht nicht verleugnet und darf auch nicht verurteilt werden. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht bei der dem Menschen aufgegebenen Selbstbestimmung seines Verhaltens. Das ist das eigentliche Problem, und an dieser Stelle hat das Urteil seinen Ort, dass homosexuelle Betätigung eine Abweichung von der dem Menschen als Geschöpf Gottes gegebenen Norm für sein sexuelles Verhalten darstellt. Im Urteil der Kirche gilt das nicht allein für die Homosexualität, sondern für jede nicht auf das Ziel der Ehe zwischen Mann und Frau bezogene sexuelle Betätigung, vor allem auch für den Ehebruch. Die Kirche muss mit der Tatsache leben, dass Abweichungen von der Norm in diesem Lebensbereich wie in andern nicht selten sind, sondern eher die Regel bilden. Die Kirche muss den betreffenden Menschen mit Toleranz und Verständnis begegnen, aber sie auch zur Umkehr aufrufen. Sie kann nicht die Unterscheidung zwischen der Norm und dem davon abweichenden Verhalten aufgeben. An dieser Stelle liegt die Grenze für eine christliche Kirche, die sich an die Autorität der Schrift gebunden weiß. Wer die Kirche dazu drängt, die Norm ihrer Lehre in dieser Frage zu ändern, muss wissen, dass er die Spaltung der Kirche betreibt. Denn eine Kirche, die sich dazu drängen ließe, homosexuelle Betätigung nicht mehr als Abweichung von der biblischen Norm zu behandeln und homosexuelle Lebensgemeinschaften als eine Form persönlicher Liebesgemeinschaft neben der Ehe anzuerkennen, eine solche Kirche stünde nicht mehr auf dem Boden der Schrift, sondern im Gegensatz zu deren einmütigem Zeugnis. Eine Kirche, die einen solchen Schritt tut, hätte darum aufgehört, evangelische Kirche in der Nachfolge der lutherischen Reformation zu sein.

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Maßstäbe zur kirchlichen Urteilsbildung über Homosexualität, in Zeitwende 65, 1994, 1-4.

Wolfhart Pannenberg, Beiträge zur Ethik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2004, S.99-102.

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